Darf ich unglücklich sein, wenn ich meine Träume lebe? Kann ich mich aus tiefstem Herzen darüber freuen und doch auch mal richtig schlecht fühlen? Ist es okay, wenn ich ein Leben lebe, um das mich viele beneiden, und ich trotzdem schlechte Tage habe?
Ich sitze vor einem Holzhaus an einem wunderschönen See in Kanada und die Wahrheit ist: Ich bin traurig. Nicht, weil es mir nicht gefällt oder ich nicht hier sein will. Vor ein paar Tagen habe ich an derselben Stelle gesessen, meinen Kaffee getrunken und die idyllische Stille in vollen Zügen genossen. Alles erscheint heute gleich: die glatte Oberfläche des Sees, in der sich der Himmel spiegelt, das fröhliche Zwitschern der Vögel, die Weite, die Ruhe der Natur … Und doch fühle ich mich anders …
Ich merke, wie ich mich dafür verurteile und versuche die negativen Gefühle zu verbannen. Ich will dankbar sein, dankbar, dass ich so etwas Schönes erleben darf, dankbar dafür, dass ich jetzt hier bin. Ich reise mit meiner großen Liebe um die Welt und schreibe dabei Bücher. Davon habe ich so lange geträumt. Da müsste ich doch glücklich sein! Warum hocke ich stattdessen hier und bin traurig? Was zum Teufel stimmt mit mir nicht?
Es ist nicht das 1. Mal, dass es mir so geht. Und auch nicht das 1. Mal, dass ich mich dafür verurteile. Doch heute schiebe ich die unangenehmen Gedanken und Gefühle nicht beiseite. Heute lausche ich der Stimme, die da zaghaft flüstert. Ich erinnere mich an eine Zeit, in der hatte ich ganz andere Wünsche und Träume. Da haben Daniel und ich in einem Haus gewohnt, unser Hund Carlos lebte noch und ich… Ich war schwanger. Es erscheint mir, wie ein vollkommen anderes Leben und das ist es auch. So viel ist seitdem geschehen, so viel hat sich verändert. Und obwohl ich glücklich darüber bin, dass Daniel und ich diese unglaubliche Weltreise machen und dabei schon so viel erlebt und gesehen haben, ist ein Teil von mir auch traurig, über das, was ich habe aufgeben müssen.
Ein Kind zu verlieren, hat mich verändert. Auch wenn ich das lange Zeit nicht sehen wollte. Es hat viel Kraft gekostet, den Traum von einer Familie endgültig loszulassen. Es war zu schmerzhaft für mich, diesen Weg weiterzugehen. Ich habe mich dafür entschieden, wieder glücklich zu werden und so froh darüber. Das Leben hat mich mit dieser wundervollen Reise beschenkt. Ich habe das wilde Gefühl von Freiheit entdeckt, unzählige einzigartige Erinnerungen gesammelt und meine Liebe zum Schreiben ausgelebt. Da sind so viele wundervolle Erfahrungen, die ich wahrscheinlich nie gemacht hätte.
Es hat eine Weile gebraucht, zu begreifen, dass es okay ist, dass auch wenn ich heute keine Kinder mehr will, der Verlust trotzdem an manchen Tagen noch schmerzt. So oft hatte ich gedacht, ich hätte damit abgeschlossen, genug geweint, genug zurückgeblickt. Doch dann ist da wieder die altbekannte Traurigkeit, die sich leise zu mir setzt. Ich glaube, manche Wunden begleiten uns für immer. Nicht weil wir sie nicht genügend geheilt haben, sondern weil sie ein Teil von uns geworden sind. Es sind die Narben unserer Seele, die Augenblicke im Leben, nach denen wir nie wieder dieselben sein werden.
Wenn eine Muschel verletzt wird, dann heilt sie sich mit Perlmutt, Schicht um Schicht stellt sie sich wieder her, macht sich „ganz“. Was dabei entsteht, ist eine Perle. Diese trägt sie fortan in sich kostbar und einzigartig. Ohne die Verletzung wäre diese Perle nicht entstanden. Ich habe durch das, was mir passiert ist, die schönen Momente viel mehr zu schätzen gelernt und Vertrauen in das Leben gefunden. Und auch jetzt lerne immer noch daraus: Zum Beispiel dass diese Augenblicke voller Traurigkeit auch dazu gehören. Sie machen die glücklichen Momente nicht weniger schön, eher im Gegenteil. Meine Träume zu leben, heißt nicht, dass ich immer gut drauf bin. Und auch nicht, dass immer alles glatt läuft. Das Leben ist Veränderung. Es gibt gute und schlechte Tage, auch wenn ich gerade in Kanada am See bin und dort immer so gern hinwollte.
Vielleicht sind wir es gewohnt, die Dinge in Schubladen zu stecken und bestimmte Vorstellungen zu haben, wie etwas sein sollte. Aber das bedeutet nicht, dass wir den Erwartungen gerecht werden müssen, weder den Erwartungen anderer, noch unseren eigenen. Du fühlst dich, wie du dich eben fühlst. Und nichts ist falsch daran!
Vielleicht heilen wir an diesem Tag um eine weitere Schicht, vielleicht entdecken wir auch die wunderschöne Perle, die wir in uns tragen.
Liebe Selina!
Eine tiefe Weisheit steckt in diesen Zeilen ….
Ich kann spüren: Du hast dich dem LEBEN ausgesetzt. Kompromisslos. Verstehst, was LEBEN heißt. Immer mehr lernst du ihm zu vertrauen. Und lässt dich darauf ein. In jedem Augenblick. Immer NEU -!!!!
Und die Metapher mit der Perle – WUNDERschön … und auch so hilfreich!!!!!
Vielen herzlichen Dank, liebe Selina!
Danke für deine Offenheit!
Im Alltag fühle ich mich manchmal so endlos alleine…
Mir geht es ähnlich wie dir, wir haben unseren Kinderwunsch nach langen Jahren endlich hinter uns gelassen, und doch kenne ich sie sehr gut, diese Tage, wo der Schmerz hochkommt…
Toll, dass du so viel aus deinem Leben machst. 🙂